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Kaninchentagebuch-Archiv

Samstag, 26. Juni 2004

 

Ein Moment des Stillstands

Zur falschen Zeit am falschen Ort!

Recklinghausen war die ganze Woche von schlechtem Wetter und Regen heimgesucht worden und ich hatte geplant, mit meiner Familie einen kleinen Einkaufsbummel in Köln zu unternehmen. Da wir ein verbilligtes Ticket hatten, wollten wir statt mit dem Auto, mit dem Zug fahren. Bis dato konnte die Bahn kein Geld an mir verdienen, dieses Jahr bin ich jedoch bereits dreimal mit dem Zug gefahren, obwohl es mich immer wieder Überwindung kostet, des gleichen gilt für den Bus. Ich fühle mich äusserst unwohl, wenn ich nicht 1 mtr freien Raum im Radius um mich herum habe, des weiteren sind derartige Massenbeförderungsmittel wahre Bakterien- und Virenschleudern. Und ich mag mich ungern mit Menschen zwangsweise umgeben müssen, von denen ich mich lieber fernhalten würde.

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Ein ganz normaler Zug und doch wiederum nicht

Freitagabend bzw. -nacht wollte ich schon nicht mehr fahren - sei es um das Ticket - egal. Und wer nun glaubt, dass ich Vorahnungen hatte, ich muss Sie enttäuschen, es waren andere Gründe. Und selbst am Samstag morgen kam ich nicht so recht aus dem Quark, klüngelte rum und war mehr als unlustig. Aber sei's drum, bevor dieser wunderschöne Tag, der sich mit strahlendem Sonnenschein zeigte, ohne Unternehmung dahin plätscherte - dann lieber emsig beeilt und weil der Parkraum rund um den Recklinghäuser Bahnhof völlig inakzeptabel ist, in letzter Minute den passenden Bus genommen. Ursprünglich wollte wir einen Bus eher nehmen, mit diesem würde es äusserst knapp werden. Ich ahnte nicht, das sich am Bahnhof auf Gleis 2 ein menschliches Drama abspielte, als ich die abgestempelten Busfahrkarten in Empfang nahm.

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Zugtür zum Gleis geöffnet

Zugtüren zum Gleis geöffnet

Und auch, dass ein Polizeiauto mit Blaulicht mit uns nahezu gleichzeitig am Hauptbahnhof eintraf, fand ich nicht verwunderlich. Es passiert ständig irgendwas in derartigen Gegenden von Schlägereien über Pöbeleien bis hin zum Diebstahl. Wir betraten also unser Gleis, welches gegenüber von Gleis 2 liegt (Recklinghausen Hbf hat nur zwei Gleise für den Personenverkehr) und alle die mich ein wenig kennen, wissen, dass ich aufgrund einer Verletzung nicht allzu schnell gehe (die mich bis dato nicht kannten, wissen es jetzt auch). Und so brauchte ich auch ein wenig, um den Wagenstandsanzeiger zu erreichen und sagte verwundert zu meinem Mann: "Ungewöhnlich, dass der Zug gegenüber so lange steht!" Normalerweise fährt der Zug ein, eine Menge Leute hasten hinein und hinaus und dann ist zügig Abfahrt. Wer mit Gepäck reist, hat eine enorme Stresssituation vor sich - ein weiterer Grund nicht häufig mit der Bahn zu reisen! Wir suchten Bereich D auf, als mein Mann bemerkte, dass die Zugtüren zum Gleis geöffnet waren. Und nur einen Moment später flüsterte er mir leise zu: "Astrid, da liegt ein Mensch unter dem Zug!"

Es war, als wenn die Zeit gefriert! Wenn man sich den Ablauf der Zeit in laufenden Bildern vorstellt, bewegt sich alles rund um einen, nur man selbst steht, ist nicht fähig sich zu bewegen und das Gehirn leistet Schwerstarbeit, wo jede geistige Leistung bei Prüfungen zu einem Witz verkommt. Tausende von Gedanken, Fragen erfüllen den Denkprozess und man versucht dieses Unfassbare zu begreifen. Ich hatte noch Zeit, mich um zu sehen - den Menschen die ebenfalls auf dem Bahnsteig standen, ging es ganz genauso.
Man wollte hier nicht bluttriefende Bilder sehen (die gab es sowieso nicht), man wollte sich nicht daran weiden, dass dort ein Mensch stirbt oder gar schon gestorben ist, sondern es war die regelrechte Ohnmacht, dass das nicht wahr sein konnte, nicht wahr sein durfte.

Dann betrat die Polizei den Bahnsteig und ich muss ehrlich sagen, blaffte die Menschen an, Platz zu machen, denn es gäbe nichts zu sehen. Ich hatte zufällig einen ehemaligen Polizeibeamten neben mir stehen und er meinte, das die Polizei für solche Situationen geschult sei, dass sie auch Bilder von Schwerverletzten durchaus verarbeiten könnte - aber anscheinend kann sie nicht mit Menschen umgehen, die unter Schock stehen. Dieser Schock äusserte sich nicht in körperlichen Versagen, sondern eigentlich eher in Bewegungslosigkeit! Ich betrete nicht jeden Tag einen Bahnsteig und werde mit Menschen konfrontiert, die unter Zügen liegen. Und über den Satz: "Es gibt nichts zu sehen!", sollte man noch mal nachdenken.

Und auch der Ton war gar nicht angebracht, denn niemand rannte auf die Gleise, niemand drängte sich immer wieder in den Vordergrund, wir standen eingepfercht wie die Schafe unter dem Vordach des Bahnsteigs und ich wunderte mich, dass in der allgemeinen Enge niemand die Treppe runterfiel, die ins Bahnhofinnere führt.
Die Rettungskräfte hatten reichlich Platz, zig Meter Abstand zu den Wartenden, wurden nicht behindert und nur leises Gemurmel war hier und dort zu hören.

Davon mal abgesehen, das man tatsächlich nichts gesehen hat. Man konnte kaum die Person, die unter den Waggon lag ausmachen, geschweige denn, irgendwelche Verletzungen sehen. Und durch die zahlreichen Rettungskräfte, Sanitäter und Notarzt, war der sterbende Mensch vor jedem neugierigen und/oder beobachtenden Blick geschützt.

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Rettungskräfte im Einsatz am Hauptbahnhof

Rettungskräfte im Einsatz

Aber es gab auch Menschen, die dieses Unheil ja haben kommen sehen, die das ganze Szenarium beobachten konnten, machtlos mitverfolgen mussten, wie ein Mensch sterben wollte und diese Menschen, die auf einer Bank sassen, und denen die umher stehenden Menschen fast die Atemluft raubten, hatten einen schweren Schock, der sich körperlich bemerkbar machte! Ich habe eine Frau nur im Augenwinkel gesehen, ich habe den ersten Satz Ihrer Aussage auf die Frage einer Polizeibeamtin, ob das jemand gesehen habe, ob dieser Mann eventuell geschubst worden sei, nur gehört. Und alleine die schrille Stimmlage, das kraftvolle, regelrechte Hinausschreien genügte, um zu wissen, diese Frau hatte zuviel gesehen. "Ich habe es gesehen, er stand ganz alleine, ich habe mich noch gewundert, warum der so alleine dort steht und dann ist er gesprungen ..."

Kennen Sie die Situation, wenn Sie auf der Autobahn fahren und Sie wissen, der Wagen an dritter Stelle wird raus ziehen, obwohl es reichlich eng ist? Oder im Stadtverkehr, der PKW vor Ihnen wird abrupt abbiegen, und es nicht entsprechend anzeigen, aber Sie wissen es und sind entsprechend vorbereitet? So muss es dieser Frau ergangen sein. Vielleicht war es die Art seiner Kleidung, dunkle Hose, weißes Hemd, Krawatte, grauer Blouson und sogar farblich abgestimmte Socken - zumindest bekleidungstechnisch war er kultiviert. Oder dass er weit ab von den anderen stand, und immer wieder einen Blick in Richtung des ankommenden Zuges warf. Eventuell auch seine Körperhaltung, was es auch immer war, sie hatte ein eindeutiges Gefühl dafür, da stimmt was nicht und war gezwungen, hilflos mit ansehen zu müssen, wie ein Mensch sich das Leben nahm.

Zur gleichen Zeit stand ein zitternder, wirklich kalkweißer Zugbegleiter vor mir, hatte ein Telefon und eine Datenbank in der Hand und sagte, dass er telefonieren müsse, aber er wisse keine Rufnummer! Auch dieser Mann wurde durch die Polizei in eine sitzende Position befördert und ich bekam den nicht gerade ermutigenden Funkspruch: "Wir brauchen dringend noch einen Notarzt, egal woher!" mit. Ich bat gen Himmel darum, nie in eine Massenkarambolage zu kommen und falls doch oder auch bei anderen Gegebenheiten, dass ich mich dann doch bitte wenigstens noch krauchend in Sicherheit bringen könnte und mich um mich selbst kümmern kann.

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Transport des Verletzten

Während dessen taten Sanitäter und Notarzt ihr möglichstes! Eine schwierige Aufgabe war, den Verletzten überhaupt zu bergen. Es ist unbegreiflich, dass ein Mensch unter einem Zug liegen kann, fast friedlich eingebettet wirkend zwischen den Gleisen und dass tatsächlich noch ein weiterer Sanitäter sich darunter zwängen konnte. Und offensichtlich war dieser Mann, der von den Beobachteten so zwischen 35 - 40 geschätzt wurde, aber tatsächlich laut Zeitungsangabe 65 Jahre alt war, nicht tot. Umfangreiche Rettungsmaßnahmen wurden getätigt und letztendlich wurde dieser Mann auch lebend im Krankenwagen transportiert.

Während wir standen und auf was auch immer warteten, sprach man mit den anderen Menschen, hörte zu, sah sich um. Es waren Menschen dabei, die Koffer bei sich hatten, die in den Urlaub wollten, die sich eigentlich in freudiger Laune befanden. Da waren Reisende, die nach dem ersten Blackout besorgt nach Ihren Anschlusszügen fragten, und auch die typische "Stille Post" war vertreten, und wenn der Anlass nicht so traurig gewesen wäre, hätte man schallend lachen können. Da kursierte die Situationsbeschreibung, dass dieser Mann mit Fahrrad auf dem Bahnhof war, zu schnell einsteigen wollte und zwischen die Waggons gefallen war. Schauen Sie sich die Personenzüge an, das ist nicht möglich, bei Güterzügen mag das anders sein.

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Personenzug

Und vielleicht wundern Sie sich, dass ich tatsächlich Fotos davon habe. Es war Zufall, ich wollte nach Köln, die Stadt entdecken, ein bisschen Geld ausgeben und da das Wetter sich von einer so fabelhaften Seite zeigte, natürlich auch Bilder machen.

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Artikel in der Recklinghäuser Zeitung, am Mo, 28.06.2004

Artikel der RZ, am 28.06.2004

Ich hatte zufällig einen Pressefotografen neben mir stehen, ist schon bemerkenswert, man erkennt die Presse sofort, auch ohne umhängenden Ausweis. Der eine rannte aufgeregt wichtig über den Bahnhof und ein leiser Fluch entfleuchte ihm, denn als er den Bahnsteig betrat, war alles schon vorbei und entsprechend wütend ging er eiligen Schrittes von dannen. Und der andere war die personifizierte Ruhe, aber eindeutig an der umhängenden Kamera zu zuordnen.
Er erklärte mir, dass es natürlich nicht verboten sei, Bilder zu machen, aber die örtlichen Tageszeitungen unterscheiden sich von der Bild-Zeitung, man zeige keine Bilder des Verletzten. So typische Bilder sind der Transport in den Krankenwagen, Befragung der Personen, etc. Ich habe bei der Bild-Zeitung angerufen, ich habe meine Frage etwas anders formuliert und eben nicht nachgefragt, ob das stimmen würde. Die Antwort lautete: "Wir zeigen keine Bilder von Suiziden!"

Und auch ich habe mich nicht mitten auf den Bahnsteig gestellt und Fotos geschossen, was das Zeug hält, sondern ganz dezent aus dem Handgelenk abgedrückt aus einer ungefähren Entfernung von 15 mtr. Selbst die nah bei mir stehenden Menschen, haben es nicht gesehen oder bemerkt.

Obwohl wir den Tag weiter gestaltet haben und das auch bewusst in versuchsweise guter Laune, haben wir immer und immer wieder darüber gesprochen, überdacht, ergründet. Mir haben meine Fotos geholfen, das zu begreifen, was da eigentlich passiert war, und ich habe mir eine Geschichte zurecht gelegt, die für mich schlüssig ist. Wenn man keine Fakten hat, ja noch nicht einmal einen Vornamen, aber den ganzen Ablauf verarbeiten will, muss man eine Lösung für sich finden. Ich habe auch ein paar Tage gebraucht, aber es ist jetzt gut. Das, was ich für mich heraus gefunden habe, stimmt wahrscheinlich vorne und hinten nicht, aber ist zurechtgeschnitten auf das Erlebte und ist für mich eine plausible, begreifbare Erklärung! Es gibt ein paar Fragen, die ich für mich nicht klären konnte, aber mit diesen Lücken kann ich leben. Das ist meine Art, damit fertig zu werden, zu verarbeiten und ich danke meinem Mann und meiner Freundin Marion, die ganz erheblich Anteil daran hatten.

Der Mann, der sich nach dem Tod sehnte, hat sein Ziel erreicht, er verstarb an seinen Verletzungen im Krankenhaus. Ich persönlich nehme es ihm nicht übel, dass er mich mit einer solchen Situation konfrontiert hat, sein Leid und seine Verzweiflung waren mit Sicherheit so übermächtig, dass er sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Aber ich bin froh, dass ich später am Bahnhof ankam, als es geplant war, dass ich den ersten Bus verpasst habe.

Ich wünsche den Opfern, die einen Schock erlitten, vor allem dem Zugführer, dem schon erwähnten Zugbegleiter und auch der Frau, deren verzweifelte Stimme mir immer noch im Ohr klingt, dass sie sich davon erholen mögen. Das sie für sich, dieses Geschehnis verarbeiten können und auch die Bilder vergessen, die sie vielleicht noch quälen. Und auch allen anderen, die teilweise sehr in sich gekehrt waren, dass sie wieder ihre innerliche Balance finden. Das dauert, das braucht Zeit, jeder hat da auch seinen eigenen Weg für, und sollten Sie es nicht schaffen, lassen Sie sich fachmännisch helfen, denn Sie leben noch, also genießen Sie dieses Leben!

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Schienenimpressionen

Zum Abschluss möchte ich noch eins schreiben, und das richtet sich an die Bahn. Alle möglichen Abläufe sind heutzutage nach irgendwelchen Ablaufschemata verifiziert, warum lassen Sie die Menschen so lange auf dem Bahnsteig stehen und geben keine Informationsdurchsagen? Die Majorität der Wartenden hätte runter in den Bahnhof gekonnt, denn der Bahnbetrieb im Personenverkehr ruhte eine sehr reichliche Stunde. Manchen fiel das lange Stehen auch durchaus schwer. Das war unnötig!
Ich war nie ein Fan von Zügen, Zugfahrten und Bahnhöfen, ich werde es auch nicht. Und ob ich dieses Jahr noch mal mit einem Zug fahre, halte ich für eher unwahrscheinlich, hat aber nichts mit dem Erlebtem zu tun, sondern Köln war aufgrund des attraktiven Preises die letzte geplante Zugfahrt für dieses Jahr! Die Fahrt nach Köln haben wir dann letztendlich aufgrund des umgeleiteten Zuges und der nächste wäre noch eine Stunde später gekommen, damit hätten wir einfach zuwenig Zeit in Köln gehabt, nicht angetreten.

In Recklinghausen war es dann wider Erwarten doch noch recht schön, trotz aller Aufregung und Gefühlsaufwallungen fanden wir Entspannung und auch Beruhigung. Vielleicht hat Altbekanntes auch etwas Tröstliches!

RE Innenstadt - Breite Str.
 

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© A. H.-F. - 29. Juni 2004