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Kaninchentagebuch-Archiv |
Samstag, 26. Juni 2004 |
Ein Moment des StillstandsZur falschen Zeit am falschen Ort! |
Freitagabend bzw. -nacht wollte ich schon nicht mehr fahren - sei es um das Ticket - egal. Und wer nun glaubt, dass ich Vorahnungen hatte, ich muss Sie enttäuschen, es waren andere Gründe. Und selbst am Samstag morgen kam ich nicht so recht aus dem Quark, klüngelte rum und war mehr als unlustig. Aber sei's drum, bevor dieser wunderschöne Tag, der sich mit strahlendem Sonnenschein zeigte, ohne Unternehmung dahin plätscherte - dann lieber emsig beeilt und weil der Parkraum rund um den Recklinghäuser Bahnhof völlig inakzeptabel ist, in letzter Minute den passenden Bus genommen. Ursprünglich wollte wir einen Bus eher nehmen, mit diesem würde es äusserst knapp werden. Ich ahnte nicht, das sich am Bahnhof auf Gleis 2 ein menschliches Drama abspielte, als ich die abgestempelten Busfahrkarten in Empfang nahm. |
Es war, als wenn die Zeit gefriert! Wenn man sich den Ablauf der Zeit in laufenden Bildern vorstellt, bewegt sich alles rund um einen, nur man selbst steht, ist nicht fähig sich zu bewegen und das Gehirn leistet Schwerstarbeit, wo jede geistige Leistung bei Prüfungen zu einem Witz verkommt. Tausende von Gedanken, Fragen erfüllen den Denkprozess und man versucht dieses Unfassbare zu begreifen. Ich hatte noch Zeit, mich um zu sehen - den Menschen die ebenfalls auf dem Bahnsteig standen, ging es ganz genauso. Dann betrat die Polizei den Bahnsteig und ich muss ehrlich sagen, blaffte die Menschen an, Platz zu machen, denn es gäbe nichts zu sehen. Ich hatte zufällig einen ehemaligen Polizeibeamten neben mir stehen und er meinte, das die Polizei für solche Situationen geschult sei, dass sie auch Bilder von Schwerverletzten durchaus verarbeiten könnte - aber anscheinend kann sie nicht mit Menschen umgehen, die unter Schock stehen. Dieser Schock äusserte sich nicht in körperlichen Versagen, sondern eigentlich eher in Bewegungslosigkeit! Ich betrete nicht jeden Tag einen Bahnsteig und werde mit Menschen konfrontiert, die unter Zügen liegen. Und über den Satz: "Es gibt nichts zu sehen!", sollte man noch mal nachdenken. |
Aber es gab auch Menschen, die dieses Unheil ja haben kommen sehen, die das ganze Szenarium beobachten konnten, machtlos mitverfolgen mussten, wie ein Mensch sterben wollte und diese Menschen, die auf einer Bank sassen, und denen die umher stehenden Menschen fast die Atemluft raubten, hatten einen schweren Schock, der sich körperlich bemerkbar machte! Ich habe eine Frau nur im Augenwinkel gesehen, ich habe den ersten Satz Ihrer Aussage auf die Frage einer Polizeibeamtin, ob das jemand gesehen habe, ob dieser Mann eventuell geschubst worden sei, nur gehört. Und alleine die schrille Stimmlage, das kraftvolle, regelrechte Hinausschreien genügte, um zu wissen, diese Frau hatte zuviel gesehen. "Ich habe es gesehen, er stand ganz alleine, ich habe mich noch gewundert, warum der so alleine dort steht und dann ist er gesprungen ..." Kennen Sie die Situation, wenn Sie auf der Autobahn fahren und Sie wissen, der Wagen an dritter Stelle wird raus ziehen, obwohl es reichlich eng ist? Oder im Stadtverkehr, der PKW vor Ihnen wird abrupt abbiegen, und es nicht entsprechend anzeigen, aber Sie wissen es und sind entsprechend vorbereitet? So muss es dieser Frau ergangen sein. Vielleicht war es die Art seiner Kleidung, dunkle Hose, weißes Hemd, Krawatte, grauer Blouson und sogar farblich abgestimmte Socken - zumindest bekleidungstechnisch war er kultiviert. Oder dass er weit ab von den anderen stand, und immer wieder einen Blick in Richtung des ankommenden Zuges warf. Eventuell auch seine Körperhaltung, was es auch immer war, sie hatte ein eindeutiges Gefühl dafür, da stimmt was nicht und war gezwungen, hilflos mit ansehen zu müssen, wie ein Mensch sich das Leben nahm. Zur gleichen Zeit stand ein zitternder, wirklich kalkweißer Zugbegleiter vor mir, hatte ein Telefon und eine Datenbank in der Hand und sagte, dass er telefonieren müsse, aber er wisse keine Rufnummer! Auch dieser Mann wurde durch die Polizei in eine sitzende Position befördert und ich bekam den nicht gerade ermutigenden Funkspruch: "Wir brauchen dringend noch einen Notarzt, egal woher!" mit. Ich bat gen Himmel darum, nie in eine Massenkarambolage zu kommen und falls doch oder auch bei anderen Gegebenheiten, dass ich mich dann doch bitte wenigstens noch krauchend in Sicherheit bringen könnte und mich um mich selbst kümmern kann. |
Und vielleicht wundern Sie sich, dass ich tatsächlich Fotos davon habe. Es war Zufall, ich wollte nach Köln, die Stadt entdecken, ein bisschen Geld ausgeben und da das Wetter sich von einer so fabelhaften Seite zeigte, natürlich auch Bilder machen. |
Obwohl wir den Tag weiter gestaltet haben und das auch bewusst in versuchsweise guter Laune, haben wir immer und immer wieder darüber gesprochen, überdacht, ergründet. Mir haben meine Fotos geholfen, das zu begreifen, was da eigentlich passiert war, und ich habe mir eine Geschichte zurecht gelegt, die für mich schlüssig ist. Wenn man keine Fakten hat, ja noch nicht einmal einen Vornamen, aber den ganzen Ablauf verarbeiten will, muss man eine Lösung für sich finden. Ich habe auch ein paar Tage gebraucht, aber es ist jetzt gut. Das, was ich für mich heraus gefunden habe, stimmt wahrscheinlich vorne und hinten nicht, aber ist zurechtgeschnitten auf das Erlebte und ist für mich eine plausible, begreifbare Erklärung! Es gibt ein paar Fragen, die ich für mich nicht klären konnte, aber mit diesen Lücken kann ich leben. Das ist meine Art, damit fertig zu werden, zu verarbeiten und ich danke meinem Mann und meiner Freundin Marion, die ganz erheblich Anteil daran hatten. Der Mann, der sich nach dem Tod sehnte, hat sein Ziel erreicht, er verstarb an seinen Verletzungen im Krankenhaus. Ich persönlich nehme es ihm nicht übel, dass er mich mit einer solchen Situation konfrontiert hat, sein Leid und seine Verzweiflung waren mit Sicherheit so übermächtig, dass er sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Aber ich bin froh, dass ich später am Bahnhof ankam, als es geplant war, dass ich den ersten Bus verpasst habe. Ich wünsche den Opfern, die einen Schock erlitten, vor allem dem Zugführer, dem schon erwähnten Zugbegleiter und auch der Frau, deren verzweifelte Stimme mir immer noch im Ohr klingt, dass sie sich davon erholen mögen. Das sie für sich, dieses Geschehnis verarbeiten können und auch die Bilder vergessen, die sie vielleicht noch quälen. Und auch allen anderen, die teilweise sehr in sich gekehrt waren, dass sie wieder ihre innerliche Balance finden. Das dauert, das braucht Zeit, jeder hat da auch seinen eigenen Weg für, und sollten Sie es nicht schaffen, lassen Sie sich fachmännisch helfen, denn Sie leben noch, also genießen Sie dieses Leben! |
© A. H.-F. - 29. Juni 2004 |